Gehst du da wieder hin?

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„Gehst du da wieder hin?“, fragt mich meine Nachbarin und mir kommt in den Sinn, wie ich als kleiner Junge nicht ins Meer wollte, weil ich Angst hatte von einem Hai gebissen zu werden.

Keine Ahnung, sage ich.
„Früher, wenn es geregnet hat, sind wir oft da hin.“
Früher war vor etwa zwei Wochen.

Bei schlechtem Wetter packten wir die Kinder ins Auto und sind hin. Dann drehten wir eine Runde durch die Einkaufspassage, kauften der Großen ein Eis und schützten die Kleine vor den grellen Deckenlichtern, damit sie nicht zu sehr aufdreht vorm Schlafengehen.

„Ich geh ab jetzt nur noch vormittags hin, da ist nicht so viel los“, sagt meine Nachbarin. Als ob das nur passiert, wenn Nachmittag ist. Und viel los.

Nach der Logik sind wir beide dann auch schon zu alt, um beschossen, dann aber wieder Ausländer genug, um getroffen zu werden, denke ich, schweige aber weiter, weil mir das passender erscheint.

In den letzten Monaten war ich oft in dem McDonalds, wo die Tat ihren Anfang nahm. Seitdem mein Schreibtisch der Kleinen als Wickelkommode dient, habe ich dort viele meiner Texte geschrieben. „Bei so Psychos weißt du ja nie“ zum Beispiel.
Schwer zu sagen, ob ich dort je wieder schreiben werde.

Meine Frau will da nicht wieder hin – zumindest nicht in nächster Zeit.
„Da werde ich nur an das Blut und die Opfer auf dem Boden erinnert.“ Der Ort ist nun belegt für sie und ich frage mich, was wir von nun an machen, wenn es regnet.

Natürlich waren wir dabei und haben alles live mitverfolgt. Über Facebook, Twitter, N24 und wie sie alle heißen, unsere treuen Informanten. Wir haben die Bilder gesehen, die Meldungen gelesen, den Augenzeugenberichten gebannt gelauscht. So medial abgebrüht, um das nicht zu tun, sind wir nicht. Erst recht, wo es doch gleich um die Ecke geschehen ist.

Mein Cousin aus Kroatien war mit seiner Familie zu Besuch und wir wollten uns mit ihnen treffen. Wenn es geregnet hätte, wären wir mit dem Bus genau da hin. Unser Auto war in der Werkstatt und die Haltestelle ist direkt vor dem McDonalds. Aber es hat nicht geregnet und so sind wir zum Olympiapark. Mit dem Bus.

Zum Spielplatz, da, wo früher einmal die Bagger standen, will unsere Große gleich hin. Sie hat Angst, dass sie da immer noch stehen, aber ihre Lust zu spielen ist größer.

„Sind die Bagger noch da?“, fragt sie.
„Nein, die sind jetzt weg“, sage ich.
„Warum?“
„Weil sie fertig gebaggert haben.“

Mein Cousin ruft an. Er habe soeben im Radio von einer Schießerei im Olympiaeinkaufszentrum gehört. Nun stehen sie im Stau.

Ich schaue zum Himmel und sehe die Hubschrauber. Ich höre die Poizeisirenen. Ich blicke auf das Olympiadorf und dann tauchen meine Gedanken in die Attentate von damals. Alles verschwimmt mit dem wirren Bild von heute, von dem ich zu dem Zeitpunkt kaum noch etwas ahne und mir wird ganz schwindlig.

Einen Moment später ruft erneut mein Cousin an. Sie kommen nicht durch, alle Straßen sind gesperrt, sie kehren um. Am nächsten Tag sogar nach Kroatien zurück.

Am Telefon meint seine Frau, als sie anruft, um zu sagen, dass sie gut angekommen sind, „Mag sein, dass es arm ist, wo wir leben, aber wenigstens fühlen wir uns hier sicher.“ Komisch, so etwas zu sagen, wo doch heutzutage wie auch früher immer überall alles passieren kann und konnte, denke ich, und wo es absolute Sicherheit höchstens in Videospielen gibt, wenn man den Unverwundbar-Cheat aktiviert. Aber ich schweige, weil mir das passender erscheint.

Da, wo sie leben, war vor gar nicht langer Zeit Bürgerkrieg und nichts wirklich sicher. Mein Cousin wurde damals von einem Granatensplitter am rechten Bein getroffen und hat dadurch fast seinen linken Hoden verloren. Er wurde in Deutschland operiert und alles ging gut. Ich habe mich gefreut, dass er uns besuchen kam, weil mir vom Krieg keiner was erzählt hat.

Als wir Jahre später seinen Junggesellenabschied feiern, wirft er sich auf dem Nachhauseweg in die Büsche und schützt mit seinen Händen den Schambereich. Weil er betrunken ist. Und weil er denkt, die Kampfflieger kommen wieder, um seine Männlichkeit zu holen. Ich lache darüber und ahme Kampffliegergeräusche nach, weil ich betrunken bin.

Bald fahren wir in den Urlaub an die kroatischen Küste. Da gibt es eigentlich keine Haie. Aber in meinen Gedanken ist da Meer. Und wo Meer ist, gibt es Haie. Und Haie beißen Menschen. Und wer weiß, eines Tages könnte sich dort mal ein Hai verirren. Gerade in dem Augenblick, in dem ich, Mensch, und meine haarigen Beine unter Wasser baumeln.

Die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, tendiert gegen null, aber in meinem Kopf ist sie sehr hoch. Beinah hundert Prozent. Deshalb helfen mir auch Meldungen wenig, die mir versichern, dass es wahrscheinlicher ist, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, von einem Blitz erschlagen zu werden oder sich beim Essen tödlich zu verschlucken. Danach habe ich nämlich nicht nur Angst vor Haien, Amokläufern und Terroristen, sondern auch noch vor Autos, Unwetter und Lammkottelets.

Für unsere Vorfahren war die Wahrscheinlichkeit von einem Säbelzahntiger gefressen zu werden auch sehr gering, trotzdem wird die Höhlenmutter dem Kind beim Verlassen der Höhle gesagt haben, „Wenn du über den Waldweg gehst, schau nach links und rechts, ob auch ja kein wildes Tier seine Zähne fletscht.“

Das Kind wird die Augen verdreht und gedankenverloren, „Mach ich, Mama“ gesagt und keinen weiteren Gedanken daran verschwendet haben, was passieren könnte. Weil beim Spielen im Wald noch nie etwas passiert ist. Und für das Kind der Weg lediglich mit Pilzen belegt war. Bis dann der Säbelzahntiger kam.

Vernünftig betrachtet müsste es jetzt Anti-Gewitter-Gesetze geben, Angela Merkel müsste einen 9-Punkte-Plan verkünden, in dem ausführlich erläutert wird, wie die Sicherheit im Straßenverkehr erhöht werden kann und ein neues Gesetz müsste feste Nahrung für immer verbieten. So würden mehr Menschen weniger oft an den wirklich großen Gefahren der heutigen Zeit sterben.

Ich bin kein Experte, aber gegen Terror und Amok kann man leider nicht viel machen. Im Gegensatz zum Säbelzahntiger erkennt man potentielle Attentäter nicht am Fellmuster oder ihren scharfen Zähnen und nein, Herr Seehofer, Sicherheit ist nicht das höchste Gut der Demokratie.

Als wir erfahren, was passiert ist, eilen wir nach Hause. Wir nehmen kleine Seitenwege und meiden die großen Straßen, weil angeblich drei Täter auf der Flucht sind. Daheim angekommen ziehen wir die Rollos runter und schließen die Fenster. Dann machen wir den Fernseher an und bombardieren unsere Sinne mit Bildern, die womöglich nie wieder aus unseren Köpfen verschwinden. Vielleicht wäre weniger Berichterstattung eine Lösung.

Jeden Raum, in dem wir uns bewegen, füllen wir mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, mit Bildern, die wir sahen, sehen, und zu sehen glauben. Wahrscheinlich werde ich zukünftig beim Einkaufen im OEZ die Menschen noch aufmerksamer beobachten als ich es eh schon tue.

Ich werde darüber nachdenken, wer von ihnen der Irre sein könnte, der gleich auf meine Familie und mich schießt. Und wer der Held, der ihm die Waffe entreißt, um uns zu retten. Ich bin es nicht.

Diese Gedanken werden sich mit denen von gestern vermischen, dass hier irgendein Irrer auf Menschen wie mich und ihre Familien geschossen hat. Einfach so. Ohne Grund. Aus dem Nichts. Und keiner war da, um es zu verhindern.

Dann werde ich mir vielleicht denken, dass es doch jetzt eine gute Idee wäre, noch eine Runde um die Geschäfte zu drehen, meiner Großen ein Eis zu kaufen und meine Kleine vor den grellen Deckenlichtern zu schützen. Damit sie nicht zu sehr aufdreht vor dem Schlafengehen.

„Ich werde da wieder hingehen“, sage ich schließlich zu meiner Nachbarin, weil die beste Art mit Ängsten umzugehen, die ist, ihnen zu begegnen. Und genau deshalb steige ich Sommer für Sommer wieder ins Meer und sage den Haien in meinem Kopf stets auf ein Neues „Hallo“.