Die Rezeptionistin

Vor kurzem habe ich „Die Klavierlehrerin“ von Elfriede Jelinek gelesen. Eine heftige Lektüre. Da geht es um eine Frau Mitte 30, Erika Kohut ihr Name, mit masochistischen Begierden. Sie lebt mit ihrer herrischen Mutter zusammen und hat keinerlei Beziehung zu Männern oder Frauen noch irgendwelche Freundschaften. 

Da beginnt ihr ein Klavierschüler, Kemmer sein Name, Avancen zu machen. Kemmer beflirtet Kohut von Tag zu Tag mehr und mehr, bis sie sich ihm schließlich offenbart. Sie schreibt ihm einen Brief, in dem sie ihm ihre Leidenschaften schildert. Er solle sie fesseln und fest zuschnüren, ihr befehlen, sie erniedrigen und unterdrücken. Nur so könne sie Lust verspüren, erst dann, wäre sie sein.

Zunächst ist das für den Schüler zu viel des Guten, er ist überfordert und verwirrt, weil er aber seine Klavierlehrerin erobern will, wagt er den nächsten Schritt und dreht vollends ab. Er überschreitet jegliche Grenze. Und es gibt immer eine Grenze. Für jeden von uns.  

Mich hat die Geschichte an ein Mädchen erinnert, das ich mal kannte. Wir trafen uns in einer Bar, lächelten uns immer wieder an und ich dachte, ich sollte sie ansprechen. Aber je länger ich darüber nachdachte, sie anzusprechen, desto weniger traute ich mich, es zu tun, und dann war der Moment des Ansprechens vorbei und ich ließ es sein. 

Irgendwann verließ das Mädchen die Bar, Sie ging an mir vorbei, wir lächelten uns ein letztes Mal an und sie sagte „Tschüss“. Ich traute mich und fragte: „Du gehst schon?“ Sie nickte. 
Als sie weg war, dachte ich, Idiot, du hättest sie vorher ansprechen sollen. 

Doch ich hatte Glück. Denn das Mädchen kam noch einmal zurück. „Du gefällst mir“,  sagte sie, und, „ruf mich an.“ Sie gab mir ihre Nummer und ich war in mehrfacher Hinsicht beseelt. Sie hatte mich angesprochen. Mich hatte jemand angesprochen. Ich war begehrt. Begehrt von jemanden, den ich selbst begehrte. Der Anfang von etwas Neuem. Der Anfang vom Ende. 

Die Beziehung entwickelte sich anders als erwartet. Das Mädchen war besonders und spannend, sie erzählte mir offen von sich und ihrer Familie. Wir trafen uns einige Male, lachten viel zusammen, hatten eine gute Zeit. Ein paar Mal küssten wir uns und einmal schliefen wir sogar nebeneinander. 

Am nächsten Tag wollten wir gemeinsam etwas unternehmen, wieder eine gute Zeit haben, aber dann erlebte ich meinen Erika Kohut Moment. Das Mädchen erzählte mir ihre masochistischen Begierden. Als sie in die Pubertät kam, saß sie einmal im Kino und sah eine Szene, in der eine Frau gefesselt und erniedrigt wurde. Da spürte sie eine Aufregung in sich, die sie nicht kannte, aber die sie schön fand.

Sie ging der Sache nach und erkannte, dass sie Lust empfand, wenn man mit ihr sadistisch umsprang und sie selbst devot sein konnte. Im ersten Moment war ich überrascht und erstarrt, im zweiten Moment bereit, es mit ihr zu versuchen, selbst zu entdecken, was das mit mir machen würde.  

Aber in Wirklichkeit war es das mit uns. Denn es gab einfach eine Grenze, die ich nicht überschreiten konnte. Ich konnte sie weder fesseln noch knebeln noch schlagen noch plagen, zumindest nicht so, dass es mir und ihr gleichzeitig Lust bereitet hätte. 

So ging es zu Ende und ich habe nie mehr von dem Mädchen gehört. Was sie heute macht, weiß ich nicht. Sie konnte kein Klavier spielen und arbeitete damals in einem Hotel. Sollte ich jemals über diese Geschichte ein Buch schreiben, werde ich es „Die Rezeptionistin“ nennen. 

Welche Lektüre hat dich in letzter Zeit gefesselt? Welche Grenze könntest du nie überschreiten? Und kannst du eigentlich Klavier spielen? Schreib mir und jetzt, wo du gerade hier, lies doch noch einen Text von mir hier.