Stunden für sich allein

Die besten Stunden des Tages sind die in der früh, die ruhigen, ungestörten, wenn meine Familie noch schläft. Da kann ich ausatmen und zu mir finden, Kraft tanken und in mich horchen, meine Gedanken erkunden und in den ein oder anderen tiefer eintauchen, ohne vorzeitig auftauchen zu müssen, weil irgendjemand um irgendwas ruft oder gar schreit – Kaffee, Cornflakes, Klopapier. 

„Das Schreiben eines genialen Werkes ist fast immer ein Kraftakt von ungeheuerlicher Schwierigkeit“, schreibt Virginia Woolf in Ein Zimmer für sich allein. Außer, dass ich mit einem Feuerzeug Bierflaschen öffnen kann, bin ich nicht für meine Kraftakte bekannt. Bei Schwierigkeiten, die müssen nicht mal ungeheuerlich sein, suche ich eher das Leichte, also das Weite statt ihre Überwindung. Das ist klar, ein geniales Werk möchte ich schon gern schreiben. Gut, es muss nicht mal genial sein. Und nicht mal ein Werk. Ein Werkchen reicht. Aber eines will ich ganz gewiss: einfach nur schreiben. 

Wie Virginia treffend schreibt, geht das nur, wenn man ein Zimmer für sich allein hat und 500 Pfund im Jahr zur freien Verfügung. Über das Zimmer und das Geld hinaus braucht es Zeit, möglichst an einem Stück, ohne ständig in seinem Zimmer und seinen Gedanken gestört zu werden. Das ist gerade unmöglich. 

Im Zimmer für sich allein ist meine Frau, sie verdient dort die Pfund im Jahr, damit wir uns ein Heim, Essen und zwei Streamingdienste leisten können. Über den Flur vor dem Zimmer huschen zwei Mädchen hin und her, die bezaubernd sind, aber nicht immer für sich allein spielen können, und Unterhaltung fordern, von ihrem Hofnarren.  

Dieser leistet ganze Arbeit, sie lieben ihn für seine Scherze, Albernheiten und den ganzen Quatsch, den er mit ihnen den ganzen Tag veranstaltet. Raufen im Schlafzimmer, Verstecken in der Papiermülltonne, bei Monopoly Junior pleite gehen. 

Aber der witzige Papa braucht immer wieder auch Zeit für sich allein, damit er nicht durchdreht. Wenn er sich die tagsüber nimmt, wird er immer wieder unterbrochen mit Fragen wie: Wie lange dauert die Pause, wie viele Minuten noch, wann ist die Zeit für dich endlich vorbei?  

Schnell. Und es geht weiter, denn weiter geht es immer. Der Müll muss raus, die Wäsche in die Waschmaschine rein, die Katze ins Haus, das Trockenfutter in den Napf, das Mittagessen auf den Tisch, das Mittagsgeschirr in die Spülmaschine, die Kinder an die frische Luft, vom Kalten ins Warme, die kleinen Köper in die Badewanne, die Gute-Nacht-Geschichte in den großen Kopf, der müde Hofnarr ins Bett, das Schreiben in den Zukunftsschrank. 

Und der wird erst geöffnet, wenn die Pandemie vorbei, die Frau aus dem Zimmer, die Kinder außer Rufweite und Papa wieder Herr im Haus. Dann wird er seine Rolle des des Hausmeisters, Hofnarren, Küchenchefs, Spül- und Waschjungen, Bademeisters, Staubsaugerführers, Ordnungshüters, Therapeuten und Gute-Laune-Bären ablegen und einfach wieder seinen Gedanken nachhängen. Einfach schreiben. 

Zum Beispiel darüber, dass die besten Stunden des Tages die in der früh sind, wenn alle schlafen. Weil ich dann ahne, wie es wieder sein wird, mich erinnere, wie es es mal war, und vor allem, mir diese ruhigen ungestörten Stunden die Kraft geben, das, was ist, zu meistern.

Welche Stunden des Tages geben euch die Kraft für den Rest? Schreibt mir und habe eine gute gesunde Zeit.