Bei so Psychos weißt Du ja nie

Wenn einer meiner Nachbarn Amok laufen würde, könnte ich in die Fernsehkameras gar nicht sagen, dass ich ihm/ihr das gar nicht zugetraut habe oder dass er/sie auf mich so einen netten Eindruck gemacht hat.

Ich kenne meine Nachbarn gar nicht. Ein „Hallo“ im Hausflur ist meist das einzige, was wir zueinander sagen und manchmal ist sogar das nicht drin.

Also könnte ich höchstens in die Kamera sprechen:
„Ja, einen Amoklauf hätte ich dem/der durchaus zugetraut. Er/Sie hat
nie zurück gegrüßt.“

Unser Nachbar mit den extra dicken Brillengläsern und kuscheligen Wohlfühlsandalen zum Beispiel. Der raucht oft vorm Haus seine Zigaretten und grüßt nie zurück. Immer, wenn ich auf ihn zukomme, und „hallo“ sage, dreht er mir den Rücken zu und senkt den Kopf zu Boden. Dann holt er Notizbuch und Stift aus der Tasche und notiert sich etwas.

Die Todesliste für seinen Amoklauf, dachte ich zunächst, aber das war Unsinn. Ich bin so ein hochsympathischer Typ, zu mir sind sogar Supermarktkassiererinnen freundlich. Mich würde mein Nachbar nie auf seine Liste setzen und bestimmt verschonen. Aber was war mit meiner Familie?

Um die zu schützen, versuchte ich meinen Nachbarn, als ich ihn das nächste Mal beim Rauchen sah, nicht nur zu grüßen, sondern gar zu umarmen. Ich wollte ein gutes Verhältnis. Doch er drehte sich wie immer weg und ich musste ihn so lange umkreisen, bis uns beiden schwindlig wurde.

Dann fragte ich ihn, „Wie geht es ihnen heute?“, aber er antwortete nicht, sondern entfernte sich zehn Schritte, um die Zigarette zu Ende zu rauchen. Als die Kippe in ihren letzten Zügen war, flüchtete er in seine Wohnung.

Bei der nächsten Begegnung folgte ich ihm bis zur Wohnungstür, was klasse war, denn nun kannte ich seinen Namen. Während der Aufzugfahrt versuchte ich ihn erneut zu umarmen, aber uns wurde beiden nur ganz schwindlig davon.

Seitdem stehe ich täglich vor Herr Hansens Wohnung und klingle Sturm. Durch den Türspion blicken wir uns minutenlang Auge in Auge, bis ich sage:
„Kommen Sie, Herr Nachbar. Machen sie schon die Tür auf. Ich will doch nur zwei Eier.“
Kurze Zeit später öffnet Herr Hansen die Tür und reicht mir zwei Eier – ohne mich dabei ein einziges Mal anzusehen.

Das erinnert mich an mein Duschgel, auf dem „Augenkontakt vermeiden“ steht. Doch wie soll man es bitte benutzen, wenn man es nicht ansehen darf. Was für ein perverses Duschgel! „Du darfst mich anfassen, benutzen und überall hinschmieren, aber schau mich bitte nicht an.“

Jedenfalls, wenn die Eier in der Pfanne braten, bitte ich meine Frau zu Herrn Hansen rauf zu gehen, und nach paar Tomaten und etwas Salz zu fragen.

Sie will ebenfalls nicht auf seine Todesliste und klingelt gerne Sturm. Durch den Türspion blicken sie sich minutenlang Auge in Auge, bis meine Frau sagt:
„Kommen Sie, Herr Nachbar. Geben sie uns schon die Tomaten und das Salz.“ Kurze Zeit später öffnet Herr Hansen die Tür und reicht ihr die Tomaten und das Salz – ohne sie dabei ein einziges Mal anzusehen.

Das erinnert sie an ihr Duschgel, auf dem ebenfalls „Augenkontakt vermeiden“ steht. Einmal ist sie mit ihm U-Bahn gefahren, um Augenkontakt halten mit wildfremden Menschen zu üben. Einem Fahrgast ist es gelungen, dem Duschgel ein Lächeln abzuringen.

Jedenfalls, wenn die Eier fertig sind, die Tomaten geschnitten und beides gesalzt, schicken wir unsere große Tochter zu Herr Hansen, damit sie ihn zum Essen ruft.

Da sie erst zwei ist, erzählen wir ihr nichts von Amokläufen und Todeslisten. Sie und Herr Hansen können sich auch nie minutenlang Auge in Auge durch den Türspion betrachten. Doch meine Tochter ist ganz gut im Sturm klingeln und so öffnet Herr Hansen auch ihr irgendwann die Tür, blickt zu Boden und schaut ihr dabei direkt in die Augen, was sie nicht an ihr Duschgel erinnert, weil sie eben erst zwei ist und noch gar nicht lesen kann.

„Onkel Hansen, Essen fertig. Bring Brot und komm mit“, sagt meine Tochter dann, doch Herr Hansen reagiert nie darauf. Und so bleibt uns nichts anderes übrig, als den alten Spruch meines Großvaters zu beherzigen: „Kommt Herr Hansen nicht zum Omelette, kommt das Omelette zum Herr Hansen.“

Während wir in seinem Wohnzimmer essen, setzt sich Herr Hansen meist mit seinem Teller auf den Balkon. Er isst immer alles auf, sagt aber nie danke, was ein wenig unhöflich ist, schließlich haben wir doch für ihn gekocht. Die letzten drei Wochen. Jeden Tag. Zwei Mal.

Dennoch möchte ich das Verhältnis mit unserem Nachbarn als klassische Win-Win-Situation bezeichnen. Für meine Familie und mich. Wir bekommen kostenlose Mahlzeiten und müssen nicht den Abwasch machen.

Gestern habe ich im Hausflur das Notizbuch von Herrn Hansen gefunden. Der letzte Eintrag lautete: „Diese Tabulas machen mich fertig. Wenn ich mal Amok laufe, sind sie die ersten, die dran glauben werden. Bis dahin genieß ich weiter ihre Kochkünste.“

Natürlich wusste ich gleich, was zu tun war. Ich ging rauf zu Herr Hansen, klingelte Sturm und blickte ihm eine Weile durch den Türspion ins Auge.
Als er die Tür öffnete, gab ich ihm das Notizbuch zurück und fragte, was er heute im Kühlschrank hätte. Dann holte ihn meine Frau ab, nahm ihn an die Hand und sie gingen U-Bahn fahren. Zum Augenkontakt üben. Herr Hansen lächelte sogar mal kurz, meinte sie später, aber es hätte auch nur ein nervöses Zucken sein können. Bei so Psychos weißt du das ja nie.

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