Als ich Samstag früh über die Anschläge in Paris lese, schlafen meine Frau und Tochter noch friedlich in ihren Betten. Meine Matratze ist unbequem und so bin ich schon wach.
Ich sitze auf der Couch, blicke auf das Display meines Smartphones und denke, gottseidank sind sie gerade hier, sind wir gerade hier. In Sicherheit. Vorerst.
Ich denke nicht, dass bald jemand in unserer Wohnung einen Anschlag verüben wird. Abgesehen vielleicht von der Katze mit ihren abscheulichen Körperflüssigkeiten.
Ich denke an die Menschen in Paris. An die Verletzten, die Familien der Opfer und alle anderen, welche die Anschläge unmittelbar erlebt haben.
Ich denke an meine Oma und frage mich, wie es ihr gerade geht. Sie hat letzte Woche einen Schlaganfall erlitten und mit Schäden im Sprachzentrum überlebt.
Dann hör ich auf, an all das zu denken und mache Frühstück. Die Sonne scheint, es ist ein schöner Tag. Wir wollen Schweinebraten und Knödel kaufen. Die Schwiegereltern kommen morgen zu Besuch. Blaukraut ist noch da. Am Abend soll ich auf einem Poetry Slam auftreten. Ich will den Katzentext machen.
Einen Augenblick später wird der Slam abgesagt. Wegen den Anschlägen in Paris. Aus Rücksicht. Aus Trauer. Aus Überforderung. Verständlich. Wie kann man nur Witze erzählen nach solch einem Tag? Doch dann wiederum: wie kann man keine Witze erzählen nach solch einem Tag? Und überhaupt, was hat das eine mit dem anderen zu tun?
In dem Katzentext vergleiche ich die Katze mit einem Attentäter und mich mit den USA. Sie verübt Anschläge, ich will sie foltern. Nach einem solchen Tag kann ich diesen Text unmöglich bringen, sagt meine Frau. Den Leuten würde das Lachen im Halse stecken bleiben. Warum, frage ich wie ein kleines Kind, das nicht versteht. Warum blieb ihnen denn vorher das Lachen nicht im Hals stecken? Vor den Anschlägen? Ist das nicht ein Widerspruch? Und muss das Leben nicht irgendwie irgendwann auch wieder weitergehen?
Ja, klar muss es das. Wahrscheinlich. Aber vielleicht nicht gerade gleich heute und nicht gerade während einer Massenveranstaltung, nachdem so viele Menschen brutal gestorben sind. Bald werde ich den Text wieder bringen können. Jetzt fahren wir erst mal zum Ikea. Weil das Leben weiter geht und ich eine neue Matratze brauche.
Können eigentlich Terroristen nachts ruhig schlafen, soll man sie noch als Menschen betrachten und steht überhaupt irgendeine der 72 Jungfrauen im Paradies auf Massenmörder und feige Schweine?
„Wo sind meine Jungfrauen?“, fragt der Terrorist im Himmel.
„Sorry, aber du bist ihnen zu brutal“, antwortet Gott und erschießt ihn.
Wenn ich überfordert bin, scherze ich. Anders kann ich den Irrsinn der Welt schwer ertragen. Ich bin kein Krieger oder Kreuzzügler, ich bin ein Clown. Meine Waffen sind Worte. Mein Glaube der Unsinn.
In Beirut gab es auch einen Anschlag. Über den wird viel weniger berichtet als über die Anschläge in Paris. Fast jede Meldung dreht sich nur um Frankreich, fast keine um den Libanon. Verständlich. 130 Tote schlagen 40 Tote.
Zudem wissen die meisten von uns wahrscheinlich gar nicht, wo Beirut überhaupt liegt. In Paris dagegen waren schon viele von uns. In der Stadt der Liebe. Unterm Eifelturm. An der Champs-Élysées. Im Louvre. Heute ist Paris die Stadt der Toten. Genauso wie Beirut. Ich war in beiden Städten noch nie.
Im Dorf meiner Oma war ich schon oft. Wenn ich sie im Sommer besuche, blüht in ihrem Garten immer ein Mandarinenbaum. Mein Vater hat den gepflanzt.
Wer weiß, ob ich da nochmal hinkomme. Wenn die Oma nicht mehr ist, wird es nie mehr so sein wie früher. So wie nichts jemals so sein wird wie früher, weil früher immer schon vorbei ist. Da. Schon wieder. Vorbei. Erst recht nach diesem Tag.
Wenn es einen Gott gibt, da bin ich mir sicher, lässt er keine Terroristen in seinen Himmel. Und wenn Terroristen in den Himmel kommen, das weiß ich felsenfest, gibt es keinen Gott. Zumindest keinen, an den ich glauben möchte.
Als ich die Nachrichten im Autoradio höre, denke ich, dass der Islam an allem schuld ist. Aber dann denke ich an die Inquisition und die Hexenverbrennungen im Mittelalter und, dass das Christentum an allem schuld ist. Nein. Das Judentum. Nein. Der Hinduismus. Nein. Jede Religion ist schuld, denke ich. Und blinder Glaube immer rückständig.
Als ich vor ein paar Jahren aus der Kirche ausgetreten bin, hat der Pfarrer im Dorf meiner Oma während der Sonntagsmesse verkündet, dass Mate Tabula aus der heiligen katholischen Kirche ausgetreten ist.
Daraufhin sprachen die Leute aus dem Dorf meine Oma an, ob ihr Enkel nun zum Islam rüber gewechselt sei oder wie. Klar, meinte meine Oma und schälte eine frisch gepflückte Mandarine. „Die haben ihm ein supergünstiges Angebot gemacht. Seitdem hat er auch schnelleres Internet.“
Nein, denke ich. Die Religion kann gar nicht schuld sein an allem. Weil Religion nur eine Sache ist, an der man festhalten kann oder nicht. Religion tötet keine Menschen. Religion drückt nicht den Abzug. Religion hinterlässt keine Fragen.
Also müssen Waffen schuld sein. Weil Waffen Menschen töten. Aber nein. Das ist auch Unsinn. Waffen können ja selbst nicht schießen.
Also können nur die Menschen schuld sein. Also wir. Denn wir sind real. Wir denken. Wir handeln. Wir töten. Mit Waffen. Wegen der Religion, denke ich, während ich mit meiner Familie in der Kantine des Ikea sitze. Wir essen Köttbullar und Laxfile. An einem sonnigen Novembersamstag im Jahr 2015 nach dem Herrn. Oder auch nicht, wenn man den Herrn für Unsinn hält.
Neben uns sitzen Araber. Keine Ahnung, ob das Araber sind oder nicht. In meinen ignoranten müden Augen sind es Araber. Worüber die gerade reden? Über die Anschläge in Paris, den Anschlag in Beirut oder den Anschlag, den sie gleich verüben werden? Ich starre auf ihre Bäuche, suche nach Sprengstoffgürteln und will ihnen schon zurufen, dass sie doch nicht gleich so hochgehen müssen, nur weil das Essen hier nicht schmeckt.
Dann schaue ich hastig zu meiner schwangeren Frau und nach meiner Tochter. Wegen den vielen Kindern, die sich um die Rutsche tummeln, kann ich sie im ersten Augenblick nicht sehen und bekomme ein wenig Angst.
Ich stelle mir vor, wie es plötzlich bumm macht. Hier. Jetzt. Im Ikea. In der Kantine. Aufgelöste Augenzeugen berichten später Journalisten: „Ich aß gerade mein ungesalzenes Rumpsteak, als es knallte. Schüsse. Schreie. Überall. Dann eine Explosion. Bumm und plötzlich, kein Ikea in Eching mehr. Wo kaufe ich jetzt bloß eine neue Matratze?“
Ich stehe auf und sehe meine Tochter wieder. Das beruhigt mich. Meine Frau wirkt müde. Sie durchlebt gerade eine anstrengende Schwangerschaft.
Die potentiellen Araber entpuppen sich als keine Terroristen. Und sie tragen auch keine Waffen bei sich, sondern Smartphones, auf die sie starren.
Als ich auf meines starre, sehe ich immer mehr Profilbilder zu Frankreichflaggen werden. Ich sehe Kommentare wie, „Mein Profilbild passt schon so“ und dann sehe ich ein Urlaubsfoto aus der Karibik, das jemand gepostet hat, der wohl nichts von dem Terror mitbekommen hat, weil er ganz weit weg an der Poolbar keine Nachrichten schaut. Keinen Anteil nimmt. Und auch das ist in Ordnung.
Wir fahren nach Hause und legen die Kleine schlafen. Die Sonne geht unter. Die Welt bleibt still. Für manche nur eine Minute. Für andere einen Tag. Für manche für immer.
Am nächsten Tag geht die Sonne wieder auf. Die Welt dreht sich weiter. Kaum verändert und doch anders. Voller schöner Dinge. Voller schrecklicher Dinge. Voller Tiefe und Banalität. Voller Widerspruch, den ich nicht verstehe, weil ich selbst einer bin. Jeden Tag einen Tag mehr als früher.
Keine Waffen für niemanden und Perspektiven für alle ist vielleicht eine gute Idee, denke ich und halte kurz inne.
Dann lache ich über diesen dummen Einfall, esse eine der Mandarinen, die mein Vater aus Kroatien mitgebracht hat und lege mich auf meine neue Matratze. Vielleicht kann ich ja auf ihr in Zukunft besser schlafen.