Mianu Bhagu Purian, 2010
(Eintrag ins Reisetagebuch)
Ich weiß nicht genau, welcher Wochentag heute ist. Ehrlich gesagt ist es mir auch schnuppe. Ich gewöhne mich langsam an das Landleben hier und nehme die Denkmuster meiner indischen Familie an. Alles hat seine Zeit, alles hat seinen Ort und das Wichtigste: der Moment.
Also weg mit der Armbanduhr und hinein in das Hier und Jetzt.
Hier und Jetzt sitze ich gerade im Hof. Rechts neben mir steht der neue Traktor geparkt, um mich herum ein Haufen Fliegen. Man gewöhnt sich an sie, sie gehören dazu.
Ich bin frisch rasiert und wohl genährt. Drei Roti, Gemüsecurry und ein frischer Joghurt tun mir gut. Mein Magen hat sich wieder beruhigt. Dank der Medizin, die ich gegen Durchfall dabei hatte, habe ich keinen mehr.
Die letzten zwei Tage verbrachten die Singhs damit, Hochzeitsgeschenke einzukaufen und für das neue Paar zu beten.
Im Haus des Bräutigams liest ein professioneller Leser aus dem heiligen Buch der Sikhs vor, dem Guru Granth Sahib oder so. Er liest das komplette Buch ohne Unterbrechung, was ungefähr zwei Tage lang dauert. Ich lausche auch ein wenig, verstehe aber natürlich kein einziges Wort. Die Erleuchtung lässt auf sich warten.
Papaji und Bibiji, die Eltern meines Freundes Kashmir, mit dem ich hier unterwegs bin, haben eine eigene kleine Betstube in ihrem Haus. Vorgestern durfte ich da auch barfuss hinein, um für das Paar zu beten. Also, die anderen haben gebetet und ich habe zugehört. Am Ende gab es eine Art süßen Brei zum Essen. Keine Ahnung, vielleicht so etwas wie die Hostie bei den Christen, nur das der indische Brei besser schmeckt als der katholische Keks.
Ob es an dem Brei lag oder nicht, in der Nacht ist dann etwas höchst Seltsames passiert. Irgendwann, keine Ahnung wie spät es war, bin ich aus dem Schlaf erwacht. Das erste, was ich tat, ich schaute aus der Tür meines Zimmers, das halb offen stand. Es war dunkel und ich hatte meine Brille nicht an, aber mir schien, da war jemand und er schaute in das Zimmer auf mich.
Der Jemand, der das stand, hatte die Statur von Papaji. Und wie Papaji trug er einen Turban. Aber er war irgendwie zu groß, um Papaji zu sein.
Ich fand das Ganze recht unheimlich und erschrak. Für eine Weile traute ich mich nicht aus dem Zimmer, obwohl ich dringend auf Toilette musste. Meiner Erfahrung nach muss man in Indien oft dringend auf Toilette.
Ich weiß nicht, ob das, was ich sah, ein Geist war oder nur eine Sinnestäuschung. Vielleicht nur der Schattenumriss des Fensters im Flur oder der Geist meines Durchfalls, der sich verflüchtigte. Die Realität liegt immer im Auge des Betrachters.
Jedenfalls überwand ich irgendwann meine Furcht, machte das Licht an und blickte erneut aus der Tür hinaus. Natürlich war da niemand.
Als ich das gestern Abend Kashmir erzählte, meinte er, ich sei ein glücklicher Mensch, denn mir sei der Guru erschienen, und der erscheint wahrlich nicht jedem. Obwohl ich an solche Dinge nicht glaube, bekam ich eine Gänsehaut.
Seine Mutter, Bibiji, meinte, ich brauche keine Angst zu haben, sie schließe mich jeden Tag in ihre Gebete ein. Kein Scheiß, ich vergoss eine Träne, als sie das sagte und das ist mir schon einige Male hier passiert.
Keine Ahnung, wie sich das jetzt anhört, aber die Begegnung mit diesen Menschen hier, mit ihrer Kultur und ihren Bräuchen, ich glaube die Reise an sich hilft mir, zu mir selbst zu finden und zu erkennen, wer ich wirklich bin. Es ist irgendwie identitätsstiftend und belebend, was ich hier erlebe.
Vielleicht ist jede Reise in ein fremdes Land, die Begegnung mit einer anderen Kultur etwas Besonderes. Etwas, das dazu führt, das Eigene wieder zu schätzen und sein Denken in der Art zu verändern, den Nabel der Welt nicht mehr in seinen eigenen vier Wänden zu betrachten, sondern die Fenster zu öffnen, damit frische Gedanken hereinströmen können.
Meine frischen Gedanken kreisen darum, dass der hedonistische, selbstverliebte Lebensstil des Westens was Höchsttrauriges und Dumpfes in sich trägt, das Tiefe und Substanz vermissen lässt.
Pauschal oder nicht, ich denke, dass vollkommenes Glück in einer Gemeinschaft nur möglich ist, wenn die Menschen ein Stück weit ihren Egoismus überwinden und sich dem Wohle der Gemeinschaft widmen, in der sie leben.
Damit meine ich jetzt keinen kommunistischen Staat oder so, in der wir alle Genossen und Genossinnen sind. Nein. Eine eigene Familie reicht, um unsere von Geburt an gegebene Einsamkeit zu überwinden und unser Seelenheil zu finden. Dabei können Familie auch Freunde sein, die für einen da sind. Nicht nur an den guten Tagen.