Gestern musste ich zum Arbeitsamt. Frau Batisek oder so wollte mit mir über meine aktuelle berufliche Situation sprechen. Draußen fielen dicke Schneeflocken vom Himmel und bedeckten meinen schwarzen Wintermantel.
Frau Batisek lebte acht Stunden am Tag in einem spärlich möblierten Büro. Ein Tisch, drei Stühle, ein Aktenschrank. In die graue, von oben schwer drückende Betondecke eingelassene Leuchtröhren gaben ihr ein paar lichte Momente.
Der Rest des Interieurs bestand aus einer halb verdursteten Topfpflanze, einer grünen Gießkanne, drei, vier, fünf von Kinderhand gemalten Bildern an den ansonsten kahlen Wänden und ein Schwarzweiß-Foto am Pinnbrett, das zwei Kinder zeigte. Einen Junge, ein Mädchen, womöglich die Kinder von Frau Batisek.
Ich zog meinen Mantel, meine Wollmütze aus. Mir war sehr heiß und das lag nicht an der Heizung. Aber auch nicht an Frau Batisek. Sie hatte einen schneidigen Kurzhaarschnitt, eine Brille aus schwarzem Kunststoff, meiner nicht unähnlich, und einen langen, dunklen Baumwollschal um ihren Hals geschnürt.
Ich glaube, man fühlte sich nie wohl, Rechenschaft über sein Leben abzulegen. Vielleicht war das auch der Grund, warum man seine Eltern so selten anrief. Auf der anderen Seite der Fensterscheibe flogen die Flocken gemütlich gen Boden. Jetzt auch ein Schneekristall sein, das wäre fein, dachte ich. Mir wurde noch heißer.
„Herr Tabula, Sie sind also Werbetexter und suchen jetzt etwas im Vertrieb.“
„Ähm, nein, Frau Batisek. Ich bin Mensch und habe, was ich suche, bereits gefunden.“
Frau Batisek blickte kurz vom Monitor auf, um sogleich umso konzentrierter wieder hineinzublicken.
„Lassen wir das Private mal bei Seite, Herr Tabula, ich möchte mit Ihnen ihre berufliche Zukunft besprechen. Das letzte Mal, als sie hier waren, bei Herr Brenner, haben sie das zumindest so gesagt. Ist das korrekt?“
„Ja, Frau Batisek, das ist korrekt. Aber das letzte Mal, als ich hier war, schien draußen auch die Sonne.“
Frau Batisek ließ sich von ihrer Aufgabe nicht ablenken.
„Wie ich sehe, Herr Tabula, haben sie die letzten drei Monate bei der Galeria Kaufhof als Kassenkraft gearbeitet. Ist das korrekt?“
„Ja, Frau Batisek, das ist korrekt. Ich wollte weg aus dem Büroalltag und nicht mehr ständig vor dem Rechner sitzen. Mehr mit Menschen machen und so.“
Frau Batisek änderte ihre Sitzposition nicht und blickte weiter konzentriert in den Monitor.
„Ich gebe Ihnen einen Tip, Herr Tabula. Verweilen Sie nicht zu lange in berufsfremden Tätigkeiten. Sie verbauen sich dadurch den Wiedereinstieg in ihren Beruf.“
„Wissen Sie, Frau Batisek…“, begann ich und wollte eine Grundsatzdiskussion über das aktuelle Wirtschaftssystem entzünden, besann mich aber und sagte, „…es gibt Menschen, denen ist ihre Karriere wichtig und es gibt Menschen, denen sind andere Dinge wichtiger. Zum Beispiel die Schneeflocken da draußen. Schauen Sie, wie schön sie fallen.“
Frau Batisek blickte kurz aus dem Fenster, um sich sogleich umso intensiver in ihren Monitor zu vertiefen.
„Haben Sie sich denn überlegt, Herr Tabula, welche Tätigkeit Sie gerne ausüben möchten.“
„Das habe ich, Frau Batisek. Aber diese Tätigkeit werden Sie in ihrem System nicht finden.“
Ich erzählte ihr, dass ich gern Geschichtenerzähler, Schriftsteller und Autor werden möchte und dass sie mir dabei leider nicht helfen könne. Ich fuhr fort und meinte, dass ich das nur selber könne, indem ich mich jeden Tag hinsetze und so schwer es mir hin und wieder falle, an meiner Disziplin, Ausdauer und Standhaftigkeit arbeite.
Frau Batisek hörte auf, in ihren Monitor zu starren und entspannte sich zum ersten Mal, seitdem ich den Raum betreten hatte. Sie drehte sich zu mir rüber und sagte, „Wissen Sie, Herr Tabula, ich habe auch Künstler in meinem Bekanntenkreis und einer von ihnen arbeitet als Nachtwächter in einem Museum. Vielleicht sollten sie auch so eine berufsfremde und stupide Tätigkeit in Betracht ziehen, um den Kopf für die Kunst frei zu bekommen. Und natürlich die Sicherheit eines geregelten Einkommens.“
Womit wir wieder am Anfang waren. Aber warum sollte ich Frau Batisek böse sein, sie machte nur ihren Job. Als das Gespräch zu Ende war, zog ich meinen Mantel, meine Mütze an und reichte ihr die Hand. „Vielen Dank für ihre Mühe, Frau Batisek, sie haben mir mit ihren Ratschlägen sehr weitergeholfen. Viel Erfolg weiterhin und einen schönen Tag noch.“
Ich versprach ihr, innerhalb der nächsten zwei Monate 15 Bewerbungen zu schreiben und aktiv nach passenden Stellen zu suchen. Initiativ über das Internet, Netzwerk, Fachzeitungen, Freunde, Familie und die kroatische Wettmafia. Schwerlich konnte Frau Batisek zu diesem Zeitpunkt wissen, dass ich nichts Passendes finden würde.
Manchmal ging es nach oben. Und manchmal nicht.
Dann ging ich durch den Schnee zu einem Freund, der gerade aus Lanzarote zurückgekommen war. Er reiste dorthin, um Drachen zu fliegen. Anhand eines Videos zeigte er mir, wie das funktionierte. Er startete von einem Vulkanhügel aus und ließ sich vom Wind in die Luft treiben. Über Täler hinweg und an Hängen entlang.
Wenn er Aufwind hatte, stieg er, und wenn nicht, dann sank er. Manchmal hatte er Schiß, sagte er. Vor allem, wenn er in Luftwirbel kam und sein Drache abrupt an Höhe verlor. Instabil nach unten sackte. Manchmal glaubte er aber auch, genau zu kontrollieren, wohin es ihn trieb oder zumindest in welchem Tempo. Dann entspannte er sich und genoss den Flug, die Aussicht über dem Atlantik.
Wenn er pinkeln musste, öffnete er den Reißverschluss seiner Hose und ließ es laufen. Die meisten konnten sauren Regen von Urin nicht unterscheiden, meinte er. Wir lachten.
Warum er Drachenfliegen liebte? Vielleicht, weil er wusste, dass das Leben viel zu kurz war, um danach zu streben, ja keine Lücken im Lebenslauf zu hinterlassen. Keine Ahnung.
Vielleicht gab es keinen Grund, warum man manches liebte und anderes nicht. Aber vielleicht gab es auch keinen Grund, nicht das zu tun, was man liebte.
Wir schnürten unsere Laufschuhe und gingen an der Isar laufen. Der Schnee bedeckte nahezu jeden Flecken Erde. Andere Menschen sahen wir kaum. Wahrscheinlich waren sie alle in der Arbeit.
Die Welt schien rein, so weiß in weiß. Schöner als grau in grau. Über unsere berufliche Zukunft sprachen wir nicht. Eine Schneeflocke fiel direkt auf meine Nasenspitze und kitzelte mich. Wir liefen weiter. Meine innere Stimme pfiff fröhlich vor sich hin. Gestern war ein schöner Tag.